
Rede zur Aktuellen Stunde
Bekämpfung von Antisemitismus
19. Oktober 2023
Sehr geehrte Frau Präsidentin, Ihre Exzellenz Ron Prosor, sehr geehrte Rabbinerinnen und Rabbiner und Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinschaft, sehr geehrte Antisemitismusbeauftragte aus Bund und Land, werte Kolleginnen und Kollegen und vor allem liebe Gäste!
Es gibt Worte, die gesagt und wenn nötig immer wieder wiederholt werden müssen, unmissverständlich und in aller Klarheit. Eine solche Lage verträgt keine Zweideutigkeiten. Deshalb sage ich in aller Deutlichkeit: Antisemitismus hat in Berlin keinen Platz, in keiner Form, nicht heute, nicht morgen, niemals wieder! Deshalb verurteilen wir jeden Angriff auf jüdische Einrichtungen in Berlin auf das Schärfste. Wir verurteilen jeden Angriff auf jüdische Bürgerinnen und Bürger in unserer Stadt, und wir verurteilen den brutalen Terrorangriff der Hamas und ihrer Verbündeten in Israel.
Die Hamas nimmt Menschen als Geiseln. Israelis wurden als Geiseln verschleppt, und sie nimmt auch die eigene Bevölkerung in eine brutale Geiselhaft. Die Hamas feiert tote Israelis, und der Tod von palästinensischen Kindern, Frauen und Zivilisten ist ihnen völlig egal. Mehr noch, sie hindern die eigene Bevölkerung daran, der eindringlichen Aufforderung des israelischen Militärs zu folgen und in den Süden des Landes zu fliehen. Bei Militäraktionen sterben Menschen, auch Zivilistinnen und Zivilisten. Das wissen wir, und wir tragen schwer an diesem Wissen, aber der Terror der Hamas hat es ausdrücklich und gezielt auf Zivilistinnen und Zivilisten abgesehen. Der Terrorismus der Hamas versucht durch Mord, Vergewaltigung und Verschleppung von Zivilistinnen und Zivilisten, die israelische Regierung zu erpressen. Unschuldige Menschen werden so als Waffe und als Schutzschild missbraucht. Alleine deshalb verbietet sich jede Art von Gleichsetzung zwischen dem, was die Hamas in Israel tut, und den Reaktionen des israelischen Militärs auf den Hamasterror. Deshalb gilt für uns ganz klar: Wir stehen für das Existenzrecht Israels ganz genauso ein wie für sein völkerrechtlich verbrieftes Selbstverteidigungsrecht. Das eine gibt es nur zusammen mit dem anderen. „Nie wieder“ ist jetzt. Das gilt für den Nahen Osten genauso wie für Berlin. Antisemitismus darf es in Deutschland und schon gar nicht in Berlin jemals wieder geben. „Nie wieder“ heißt für uns, jeden Tag und gegen jede Form von Israelfeindlichkeit und Antisemitismus aufzutreten.
Das Existenzrecht Israels ist deutsche Staatsräson. Machen wir uns eigentlich klar, was dieser Satz bedeutet? – Er bedeutet, dass es Israel geben muss, auch aus deutschem Interesse, und dass wir in der Pflicht sind, Israel zu verteidigen, damit Jüdinnen und Juden überall auf der Welt wissen, dass sie einen eigenen Staat haben, der sie aufnimmt und der in der Lage ist, sie zu beschützen. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde und das „Nie wieder“ angesichts des Grauens des Holocausts sind das Fundament, auf dem eben auch unser heutiges, modernes, demokratisches Deutschland ruht. Wenn Israels Existenzrecht infrage gestellt wird, dann bröckelt dieses Fundament. Berlin, die Hauptstadt Deutschlands, trägt hier eine besondere Verantwortung. Berlin ist die Stadt, in der der Holocaust geplant und gesteuert wurde. Berlin ist eine Stadt, die heute stolz darauf ist, Sehnsuchtsort für viele junge Israelis und für ein stetig wachsendes und vielfältiges jüdisches Leben zu sein. Es war wichtig und richtig, Herr Regierender Bürgermeister, das Brandenburger Tor gleich am Abend des Terrorangriffs am 7. Oktober 2023 mit der israelischen Flagge anzustrahlen. Durch dieses Tor marschierte 1933 die SS nach der Machtübergabe an Hitler mit Fackeln. Das Brandenburger Tor ist heute das Symbol von Freiheit, der Freiheit unserer Stadt, und als solches darf es nie wieder Bühne für Hass, menschenverachtende Ideologien und Antisemitismus sein, denn „Nie wieder“ ist jetzt.
Klar ist aber auch, dass Worte nicht genügen, es braucht Taten. Drei Tage nach dem Terrorangriff der Hamas war ich mit einigen Kolleginnen und Kollegen aus diesem Haus im Jüdischen Campus der Chabad-Gemeinde in Charlottenburg zu Gast. Die Schulleiterin erzählte uns, dass die Kinder über die Bilder von geschändeten Leichen und gequälten Geiseln zunächst einfach geschockt waren. Dann kam die Angst, und bei der Angst geht es um Berlin, um ihr Leben, um ihre Heimat. Eltern, das haben wir heute Morgen von Gesa Ederberg gehört, schreiben dem Vorstand der jüdischen Masorti-Schule, wie sie, die Schulleitung, es verantworten könne, in dieser Situation die Schule offenzuhalten. Das sage ich ganz klar: Die Sicherheit zu garantieren, ist nicht die Aufgabe der Schulleitung, das ist unsere Aufgabe hier! Denn bedrohliche Bilder aus der Stadt, in der diese Kinder leben, häufen sich. In den letzten Tagen wurden auf Berliner Straßen der Hamasterror und die Toten als vermeintliche Befreiung Palästinas gefeiert, israelische Fahnen brannten, Hunderte folgten Aufrufen zu aggressiven, antiisraelischen und antisemitischen Versammlungen. Vorgestern Nacht flog ein Molotowcocktail auf das Tor der jüdischen Gemeinde Kahal Adass Jisroel in der Brunnenstraße. Das ist ein Sündenfall. Dass in der deutschen Hauptstadt jemals wieder Synagogen und sogar das Holocaustmahnmal angegriffen werden, ist unerträglich und beschämend. Dass Davidsterne an Türen von Häusern geschmiert werden, in denen Berliner Jüdinnen und Juden wohnen, erinnert mich an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Bei all diesen schrecklichen Bildern möchte auch ich ausdrücklich der Berliner Polizei danken. Während andere noch in Schockstarre waren, hat die Polizei auf Hochtouren die Gefährdungslage angepasst und Maßnahmen getroffen, um die jüdischen Einrichtungen in Berlin zu schützen und der Verherrlichung von Gewalt und Terror entgegenzutreten. Das ist auch angesichts der Ereignisse gerade der letzten Tage kein einfacher Job, das wissen wir. Sie setzen besonnen, aber auch mit aller Konsequenz den Rechtsstaat durch. Wo Straftaten begangen werden, handeln sie schnell und greifen gezielt ein. Die Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut, aber wenn Versammlungen gekapert werden, um Gewalt zu verherrlichen, dann ist es richtig, sie aufzulösen. Deeskalation ist das Gebot der Stunde. Und hier sind auch alle Demokratinnen und Demokraten gefragt. Es ist hier Konsens, dass Straftäter nicht ungestraft davonkommen. Genauso sind das Betätigungsverbot für die Hamas und das Verbot der Organisation Samidoun die richtigen Entscheidungen.
Wir werden aber auch darüber sprechen müssen, wie wir die jüdischen Einrichtungen dauerhaft besser schützen können, und zwar auch die, die wie Kahal Adass Jisroel nicht zur Jüdischen Gemeinde Berlin gehören, und auch eine Einrichtung wie die Drei-Religionen-Kita. Berlin ist nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs über die Jahrzehnte und die Wiedervereinigung bis heute zum Symbol für Freiheit und Vielfalt geworden, und das wollen wir auch weiter sein.
Und zur Vielfalt dieser Stadt gehört auch eine große palästinensische Community. Viele von ihnen sind seit Jahrzehnten hier, ihre Kinder sind hier geboren, und die allermeisten wollen nichts mit der Glorifizierung des Hamasterrors durch Organisationen wie Samidoun zu tun haben. Sie wollen weder von Samidoun noch von der Hamas oder der Hisbollah vereinnahmt werden. Sie halten auch dagegen, und auch das ist Berlin. Auch sie sehen, was die Hamas ihren noch dort lebenden Familien und Freunden angetan hat. Die Hamas kämpft nicht für die Freiheit dieser Familien und nicht für die Menschen im Gazastreifen, sie kämpft für Hass, Spaltung und Vernichtung, und sie will auch einen Keil in unsere Gesellschaft treiben, und das wissen die meisten Menschen. Auch für sie ist es eine schwere Zeit.
Wir haben Respekt vor all jenen, die in diesen Zeiten die richtigen Worten finden, so wie beispielsweise der Imam der Dar-as-Salam-Moschee in Neukölln, Imam Taha Sabri, der die Gläubigen beim Freitagsgebet eindringlich ermahnt hat, Ruhe zu bewahren, nachdem die Hamas zum „Tag des Zorns“ ausgerufen hatte. Nicht alle hören auf solche Appelle. Zu Recht richten wir einen besonderen Blick auf die, die eskalieren, gerade wenn Jugendliche in Konflikt mit dem Rechtsstaat treten. Das muss man klar benennen, und das braucht rasche Strafen. Vor allem aber braucht es Lösungen. Wer jetzt stattdessen schwadroniert, in Deutschland geborene Jugendliche auszubürgern oder abzuschieben, zündelt.
Mehr denn je braucht es Aufklärung. Es braucht die Räume für Auseinandersetzungen mit dem Nahostkonflikt, mit Antisemitismus, mit unserer deutschen Geschichte. Es sind schwierige Gespräche, aber sie müssen sein. Schule kann und muss ein solcher Ort sein, aber dafür brauchen Lehrkräfte Unterstützung. Sie brauchen Expertise, und die gibt es in Berlin. Allein im letzten Jahr meldete RIAS – die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus – 848 antisemitische Vorfälle. Sie und andere, wie auch Levi Salomon, versuchen seit Jahren, das Dunkelfeld aufzuhellen und zu dokumentieren. Sie brauchen für ihre Arbeit eine dauerhafte Unterstützung.
Vieles ist geschehen, und vieles bleibt zu tun. Mit Studien abspeisen dürfen wir die Community nicht, gerade jetzt nicht. Einen großen Dank möchte ich an die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus richten. Sie leistet gerade im Dialog mit unzähligen Schulklassen, aber auch Lehrkräften einen unverzichtbaren Beitrag, oder auch Projekte, die derzeit um ihr Weiterbestehen kämpfen, wie der New Israel Fund, der speziell zum Nahostkonflikt und zum israelbezogenen Antisemitismus arbeitet, oder auch die Amadeu-Antonio-Stiftung, deren Gründerin Anetta Kahane seit über 30 Jahren Vorkämpferin gegen Antisemitismus ist. Danke auch von diesem Haus! Das mag Ihnen nicht gefallen, aber was diese Projekte gerade für unsere Demokratie leisten, ist essenziell. Aber sie arbeiten am Limit, vor allem in den letzten zwölf Tagen. Sie brauchen jetzt Verstärkung. Da braucht es finanzielle Sofortmaßnahmen, Frau Günther-Wünsch! Ich bitte den Senat: Bringen Sie das umgehend auf den Weg, und anschließend natürlich auch im Doppelhaushalt, denn diese Arbeit wird in diesen Zeiten mehr gebraucht denn je! Das sollte ein Ergebnis der heutigen Debatte sein.
Vor allem aber können wir das Aufstehen gegen Antisemitismus nicht den Expertinnen und Experten allein überlassen. Es ist unser aller Verantwortung. – Ich zitiere mit Verlaub: Dies ist kein Krieg gegen die Juden. Dies ist ein Krieg gegen uns alle. Jene, die heute gegen Juden sind, sind morgen gegen Frauen, übermorgen gegen Homosexuelle und schließlich gegen alle Menschen in der Demokratie. So hat es Rabbi Teichtal formuliert, und er hat recht. Unser Frieden, unsere Freiheit und unsere Demokratie sind das Kostbarste, was wir haben, aber sie sind keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen sie verteidigen, jeden Tag aufs Neue, und dafür müssen wir zusammenstehen. Umso mehr danke ich allen, die das am „Tag des Zorns“ vergangenen Freitag getan haben, wie Holger Michel, der nach kurzem Kontakt mit Betenden vor der Synagoge am Fraenkelufer die Mahnwache dort organisiert hat und so gemeinsam mit sehr vielen Menschen im gemeinsamen Gedenken ein starkes Zeichen für Zusammenhalt und Solidarität in Berlin setzte, und das ist unser Berlin. Ich danke aber auch allen Jüdinnen und Juden, die sich nicht haben einschüchtern lassen; die ihrer Stadt und den Berlinerinnen und Berlinern so vertraut haben, dass sie ihre Kinder auch am „Tag des Zorns“ zur Schule geschickt haben; die auch am „Tag des Zorns“ zur Synagoge gegangen sind, um Sabbat zu feiern. Dieses Vertrauens müssen wir uns würdig erweisen, im politischen Handeln genauso wie als Mitglieder der Zivilgesellschaft. Unser Versprechen ist: Wir stehen an Ihrer Seite, und wir stellen uns vor euch.
Ich möchte noch einen persönlichen Gedanken mit Ihnen teilen. Der Terrorangriff der Hamas fiel nicht zufällig auf den letzten Tag des jüdischen Laubhüttenfestes Sukkot. Zwei Tage davor saß ich noch mit vielen anderen jüdischen, muslimischen und christlichen Menschen auf den harten, schmalen Bänken der Laubhütte neben der Synagoge am Oranienburger Tor. Eingeladen von den Frauen, die gemeinsam eine Drei-Religionen-Kita bauen wollen. Eine der Gründerinnen, Rabbinerin Gesa Ederberg, ist heute hier zu Gast. Die Erinnerung an diesen Abend, der noch nicht lange her ist, ist fast wie eine Erinnerung an eine andere Zeit, genau wie die Botschaft des jüngsten Ehrenbürgers von Berlin, dem jüdischen Dirigenten Daniel Barenboim. Er hat gerade in diesen Tagen seinen Appell erneuert, in den anderen trotz allem vor allem erst einmal Menschen zu sehen. Es sind Worte, die aus einer anderen, einfacheren Welt zu stammen scheinen, und doch brauchen wir genau dieses hartnäckige Festhalten an dem, was der Kitt in vielfältigen Gesellschaften ist: Dialog, der Versuch der Verständigung selbst in diesen schwierigen Zeiten. Zusammenhalt lässt sich weder von oben noch rechtlich verordnen, doch Zusammenhalt ist das, was die Demokratie stark macht. Ich komme zum Schluss.
Wir verabschieden heute eine Resolution mit dem Titel „Berlin steht an der Seite Israels“. Es hätte eine gemeinsame, fraktionsübergreifende Resolution der vier demokratischen Parteien werden können. Das wäre ein starkes Zeichen des Zusammenhalts, gerade in einer solchen Situation gemeinsam zu agieren. Verantwortung verlangt eben auch, über den eigenen Schatten zu springen. Ich bedauere ausdrücklich, dass es nicht möglich war, sich heute auf eine gemeinsame Entschließung zu verständigen. Dennoch: Jetzt ist keine Zeit für parteitaktische Spielchen, und deshalb werden wir der Resolution von Schwarz-Rot zustimmen, denn es braucht Klarheit und Einigkeit in einer solchen Lage. Von diesem Haus sollte heute eine klare Botschaft ausgehen: Wir lassen uns nicht spalten. Wir stehen gemeinsam an der Seite all derjenigen, die gegen Spaltung, gegen Hass und Antisemitismus und für das friedliche Zusammenleben in unserer demokratischen Gesellschaft streiten.
Vielen Dank!