top of page
IMG_4535-Enhanced-NR.jpg

Rede zur Aktuellen Stunde
75 Jahre Grundgesetz

23. Mai 2024

Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! 

 

Wenige politische Texte kommen ohne Schnörkel und rhetorische Schleifen aus, aber unser Grundgesetz beginnt mit einem Satz, der ebenso schlicht wie unverzichtbar ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wie schön unser Grundgesetz hier ist, wie klar, ohne Schnörkel, ohne Rhetorik, ohne Einschränkung. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ja, des Menschen! Sie fragt weder nach Pass noch nach Aufenthaltspapieren, nach sozialem Status oder Geschlecht, nach Aussehen, Behinderung oder sexueller Orientierung. Das ist es, was die Väter und die wenigen Mütter des Grundgesetzes zum Fundament der Bundesrepublik Deutschland gemacht haben. Es ist die Lehre aus dem Holocaust. Auf die Menschenverachtung des Faschismus antwortet das Grundgesetz mit Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde. 75 Jahre alt und immer noch seiner Zeit voraus. 

 

Wer die Menschenwürde aller Menschen nicht als das absolute Fundament unseres Zusammenlebens anerkennt, der erkennt unsere Verfassung nicht an und stellt damit auch unsere Demokratie in Frage. Faschisten können keine Demokraten sein. Bezeichnenderweise hat die AfD-Fraktion zur heutigen Debatte eine Resolution zu 75 Jahren Grundgesetz vorgelegt, ohne darin die Menschenrechte oder die Menschenwürde ein einziges Mal zu erwähnen. Heute Abend um 18 Uhr findet in Französisch Buchholz zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes eine Menschenkette für Menschenwürde, Vielfalt und Demokratie statt. In Blankenburg, ebenfalls Pankower Norden, demonstrieren seit Wochen Menschen vor dem sogenannten Braunen Haus, einem Treffpunkt der rechten Szene, unter dem Motto: „Diese Straße bleibt hell!“. Immer mehr Berlinerinnen und Berliner gehen auf die Straße, weil sie verstanden haben, dass das Grundgesetz, dass unsere Demokratie bedroht sind und verteidigt werden müssen und dass die Gefahr von rechts kommt. 

 

Mir ist heute, am 75. Jahrestag unseres Grundgesetzes, nicht nur nach Feiern zumute, denn unser Grundgesetz und unsere Demokratie sind so bedroht wie schon lange nicht mehr. Unsere politische Kultur hat sich erschreckend verändert. Bedrohungen und Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker, Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer, aber auch Aktivistinnen und Aktivisten und Journalistinnen und Journalisten nehmen zu. Die Zunahme der Gewalt, die Verrohung der politischen Kultur kommt dabei nicht von ungefähr. Rechte Akteure delegitimieren gezielt demokratische Verfahren, sie initiieren Hetzkampagnen gegen Demokratinnen und Demokraten, und sie schüren Gewaltfantasien. Noch beunruhigender ist jedoch, dass sich weite Teile der Gesellschaft, der Medien und auch demokratischer Parteien an der Verächtlichmachung von Demokratie, von Demokratinnen und Demokraten beteiligen. Statt inhaltlicher Auseinandersetzungen wird mit plumpen Ideologievorwürfen und Polemik agiert. 

 

Demokratie lebt aber vom Streit um das beste Argument. Ich bin sicher, dass alle demokratischen Fraktionen hier im Saal unsere Demokratie und unser Grundgesetz stärken und verteidigen wollen. Dann müssen in dieser Frage aber auch alle demokratischen Fraktionen von CDU bis zur Linken zusammenstehen, ungeachtet aller unserer sonstigen Unterschiede. In der Frage, ob wir als wehrhafte Demokratinnen und Demokraten zusammenstehen, geht es nicht darum, eine vermeintliche Balance oder den gleichen Abstand zu rechts und links zu halten. Es geht schlicht um die Frage: Wo stehen wir? Auf der Seite der Demokratie und des Grundgesetzes? Oder auf der Seite der Demokratiefeinde, die Freiheitsrechte missbrauchen, um sie abzuschaffen? Das ist eine Frage von Klarheit und Mut, es ist keine Frage der Hufeisentheorie. 

 

Unsere Demokratie ist eine wehrhafte Demokratie. Deshalb gibt es im Grundgesetz die Richteranklage, die wir gerade eben auch in der Berliner Landesverfassung verankert haben. Deshalb gibt es die Möglichkeit, verfassungsfeindliche Parteien und Vereine zu verbieten, wenn auch zu Recht mit hohen Hürden. Das Urteil des OVG Münster zur AfD hat gezeigt, dass wir wachsam sein müssen. Es ist Zeit zu handeln. Das Grundgesetz hat gelernt, sich zu schützen. Schützen wir gemeinsam die Demokratie! 

 

Das Grundgesetz ist 75 Jahre alt, aber hier, im ehemaligen Ost-Berlin, wo dieses Parlament steht, gilt es erst seit dem 3. Oktober 1990. Viele Ost-Berlinerinnen und Ost-Berliner haben damals in der Friedlichen Revolution für ihre Freiheit, für Meinungsfreiheit, für Versammlungsfreiheit gekämpft und sie errungen. Gemeinsam bildeten damals Oppositionelle und etablierte Parteien im Vorfeld der Volkskammerwahlen 1990 einen Runden Tisch zu Verfassungsfragen, um eine eigene, moderne Verfassung zu erarbeiten – und sei es, um im Zuge der Wiedervereinigung auf Augenhöhe mit den westdeutschen Parteien über eine gemeinsame Verfassung verhandeln zu können. Die Erwartungen waren hoch. Ich zitiere – mit Erlaubnis – Wolfgang Templin, Mitgründer des oppositionellen Bündnisses für Frieden und Menschenrechte: „Das Zueinanderfinden beider so lange getrennter Staaten ist ein grundlegender historischer Einschnitt und verlangt eine gründliche Selbstvergewisserung beider Seiten über ihr Woher und ihr Wohin.“ Diese Erwartung wurde enttäuscht: Es kam nicht zu ernsthaften Verhandlungen über eine gemeinsame neue Verfassung. Die Volkskammer entschied sich stattdessen für eine rasche Wiedervereinigung. Das war von der großen Mehrheit so gewollt; das müssen wir festhalten. Zugleich wurde damit aber eine Chance vertan, nämlich das Grundgesetz gemeinsam weiterzuentwickeln und gesellschaftliche Fragen aufzugreifen, die 1949 so noch nicht absehbar waren. Mehr politische Partizipation durch direkte Demokratie, der Umweltschutz als eine Frage der Menschenrechte, stärkerer Minderheitenschutz, mehr soziale Rechte wie das Recht auf Wohnen und auf Arbeit – das alles stand damals auf der Agenda. Manches davon hat danach auf anderen Wegen Eingang ins Grundgesetz gefunden. Dennoch: Gerade hier, in der Stadt des Mauerfalls, erwächst für uns aus dieser Geschichte die Verpflichtung, das Grundgesetz mit Leben zu erfüllen und weiterzuentwickeln, denn das Grundgesetz hat sich von einem Provisorium zur echten Verfassung gemausert. Es war aber niemals statisch, sondern es hat sich mit der Gesellschaft weiterentwickelt. Das sollten wir als Chance begreifen, denn es gibt noch genug zu tun. 

 

Artikel 3 des Grundgesetzes lautet: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Diese Diskriminierungsverbote wurden als Antwort auf die Verfolgung im Nationalsozialismus formuliert. Der letzte Satz wurde aber trotz der Euthanasieverbrechen der Nazis erst 1994 ergänzt, und queere Menschen – obwohl damals verfolgt – bleiben bis heute ungenannt. Deshalb fordert die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, völlig zu Recht, dass queere und übrigens auch alte Menschen endlich in diesen Katalog aufgenommen werden müssen. Gut, dass auch Berlin diese Forderung unterstützt – für die, die hier nicht geklatscht haben. In Berlin sind wir übrigens mit dem Landesantidiskriminierungsgesetz Vorreiter, um den Artikel 3 des Grundgesetzes auch in einem Bundesland mit Leben zu erfüllen – ein Gesetz, das die AfD abschaffen will. 

 

Allen demokratischen Fraktionen muss es darum gehen, die Demokratie und die offene Gesellschaft – so, wie sie im Grundgesetz konstituiert sind – weiterzuentwickeln und zukunftsfest zu machen, anstatt angesichts rechter Polemik zu verstummen. Dazu ein letztes Zitat der Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, Carolin Emcke: „Die autoritäre Bedrohung wird nicht dadurch verschwinden, dass die politischen Ambitionen der inklusiven, offenen Demokratie absichtsvoll kleingehalten werden, um nur ja niemanden zu verschrecken. Wer die demokratische Ordnung erhalten will, muss sie in ihren Versprechen erweitern und vertiefen wollen …“ – und dazu braucht es Mut! Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren in seiner Rechtsprechung gezeigt, welche Zukunftsaufgaben wir noch vor uns haben. Freiheit ist nämlich auch die Freiheit derjenigen, die nach uns kommen. Deshalb ist Klimaschutz Freiheitssicherung für die nächsten Generationen, weil es nämlich die grundgesetzlich garantierte Freiheit derjenigen, die nach uns kommen, einschränkt, wenn wir ihnen eine unbewohnbare Umwelt hinterlassen. 

 

Ich komme zum Schluss: Das Grundgesetz ist lebendig. Es ist offen für einen gesellschaftlichen Wandel. Gerade dadurch hat es sich bewährt – als Grundkonsens, auf dem wir heute stehen. Dennoch: Nicht alles am Grundgesetz ist wandelbar. Die Menschenwürde, Demokratie und das Rechtsstaatsprinzip haben Ewigkeitscharakter. Verteidigen wir sie gemeinsam gegen Menschenhasser und Demokratiefeinde! Wir haben mit dem Grundgesetz etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt. 

 

Vielen Dank!

bottom of page